Warum Experimente im Web?


Die klassischen Grundformen des Experiments in der Kognitions- und Sozialforschung sind das Labor- und das Feldexperiment. Beide sind gegenüber dem einfachen Beobachten aktiv eingreifende Formen des Erkenntnisgewinns. Sie sind mit bestimmten theoretischen und praktischen Nachteilen verbunden, die ihre Aussagekraft grundsätzlich beeinträchtigen. Die neue Kategorie des Experiments im World Wide Web bietet die Chance, der Experimentalforschung mehr Geltungskraft zu verschaffen.

Eine ausführliche Diskussion der im Folgenden aufgeführten Stichworte zur Methodologie und Tips zur Durchführung von Web-Experimenten findet sich bei Reips, U.-D. (1997). Das psychologische Experimentieren im Internet. In B. Batinic (Hrsg.): Internet für Psychologen (S.245-265). Hogrefe. Dieses Buch hat seinen eigenen Platz im WWW und erschien 2000 in zweiter, vollständig überarbeiteter Auflage.
Ebenfalls im Jahr 2000 erschien Reips, U.-D. (2000). The Web Experiment Method: Advantages, Disadvantages, and Solutions. In M. H. Birnbaum (Ed.), Psychological Experiments on the Internet (pp. 89-118). San Diego, CA: Academic Press. Dieser Beitrag enthält eine vertiefte und erweiterte Darstellung der unten genannten Punkte und zitiert eine Reihe von empirischen Belegen, u.a. aus unserem Programm zur Erforschung spezifischer Eigenschaften von Online- und Offline-Forschungsmethoden. Weitere neuere und ältere Publikationen zum Thema Web-Experimentieren und Online-Forschung liegen vor oder sind in Arbeit. Aktuell: Dimensions of Internet Science (erscheint Mai 2001).


Nachteile klassischer Experimentformen

  • nicht repräsentative Stichproben (Psychologie-Studierende, jung, beweglich, deutsch bzw. schwäbisch)
  • Kulturspezifität der Ergebnisse ist schwer überprüfbar
  • N kann aus praktischen Gründen (Finanzen, Zeit, Raum) nicht groß bzw. optimal werden
  • Dem Versuchsleitereffekt wird selten vorgebeugt
  • Institutionelle und bürokratische Regeln schaffen oft ökologisch verzerrte Situationen (z.B. Laborzeiten, die auf [nichtmittagessenszeitliche :-)] Tageszeit an Werktagen beschränkt sind)
  • Kontrolle potentiell relevanter Faktoren: zuviel (Labor) oder zuwenig (Feld)
  • die traditionelle Methode begrenzt eng, was experimentell erforscht werden KANN (teilweise um die oben aufgelisteten Nachteile zu umgehen) und -schlimmer noch- was erforscht WIRD (wegen der Leichtigkeit, mit der die manche Experimente durchgeführt werden können und der Schwierigkeiten, mit denen man bei Durchführung anderer Experimente rechnen müßte)

  • Vorteile des Internet-Experiments

  • örtlich nicht gebunden (international, Stichprobe nicht eingeschränkt)
  • potentiell hohes N möglich, z.B. auch durch
  • Erreichbarkeit vieler Versuchspersonen mit bestimmten Merkmalen
  • Experiment kommt zur Vp, anstatt umgekehrt
  • kein Versuchsleiter nötig
  • finanziell lukrativ (VL- und Vp-Bezahlung)
  • organisatorisch interessant (keine Räume, Terminpläne, Aushänge)
  • Durchführung rund um die Uhr
  • eventuell schneller umbaubar
  • mehr und schnellere Öffentlichkeit von Forschung (Peerkontrolle in der Wissenschaftlergemeinde, Nachvollziehbarkeit, Diskussionsfrequenz)
  • ökologisch valider?
  • komplette Freiwilligkeit der Teilnahme über das ganze Experiment hinweg

  • Nachteile des Internet-Experiments

  • weniger (?) Kontrolle (viele Vpn an einer Adresse, eine Vp an vielen Computern)
  • in anderem Sinne nicht repräsentative Stichprobe (Internet-Benutzer-Struktur: derzeit zu 38,7% (USA) bzw. 16,3% (Europa) Frauen; Netzzugang; referierende Website)
  • Selbstselektion
  • technische Varianz (verschiedene Computer, Monitore, Browser, Netzverbindungen)
  • Motivation? Abbruch wahrscheinlicher
  • Rückfragen VP --> VL während des Experiments nicht möglich



  • Schlußfolgerung

    Internet-Experimente eignen sich für viele Bereiche der Forschung, in denen es nicht auf eine genau kontrollierte Laborsituation ankommt (Beispiel: quantitative Erfassung von Variablen wie Wahrnehmungsschwellen ist nicht möglich).
    Einige der potentiellen Nachteile lassen sich durch geeignete Maßnahmen vermeiden, wie etwa die Gefahr mehrfacher Teilnahme durch Berücksichtigung nur des ersten Datensatzes einer Internet-Adresse oder motivationsbedingter Drop-Out durch eine bedingungsunabhängige "Aufwärmphase".
    Äußerst reizvoll erscheinen die Vorteile, die die weltweite Erreichbarkeit von Versuchspersonen in sehr großer Zahl bietet. Zum ersten Mal scheint es möglich, solche grundsätzlichen Einwände gegen das klassische Experiment wie demographischer, kultureller und zahlenmäßiger Nichtrepräsentativität der Stichproben zu überwinden und dabei auch noch Geld zu sparen.

    Darum: keine Angst vor Internet-Experimenten:



    Kommentare? Anregungen?

    Meine Einschätzung der Möglichkeiten des Web-Experimentierens sind - besonders vielleicht in ihrem Optimismus - recht subjektiv. Deshalb freue ich mich über Anregungen und Kommentare, die ich in Ausschnitten hier zu veröffentlichen gedenke. (Wenn Sie generell an der Diskussion der Internet-Forschungs-Methodologie interessiert sind, dann können Sie auch an der "Psycresearch-online" mailing-Liste teilnehmen, indem Sie
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    Letzte Revision: Die, 16. Feb 2001
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